© Yasmin El Sayed
Aus der Geschichte: der Zucker wird vom Luxus- zum Allgeimeingut
Die Erbschaft Georg Wickes erreichte den Schwalm-Eder-Kreis um 1829. Zu dieser Zeit geriet das System, mit dem Wicke sein Vermögen verdient hatte, zunehmend ins Wanken. Nachdem Zucker aus kolonialisierten Karibikinseln rund 150 Jahre lang den Zucker-Weltmarkt beherrscht hatte, begann diese Dominanz ab circa 1800 langsam zu bröckeln (Merki 1999, S. 240-241)(1). Der Handel mit karibischem Zucker war grundlegend mit der Arbeit versklavter Menschen verflochten. Daher nahm der Wirtschaftssektor erheblichen Schaden, als es in der Karibik zu verstärktem Widerstand kam und die Sklaverei langsam ein Ende fand (ebd., S. 240-241). Eine solche Destabilisierung des Zuckermarktes war keine Kleinigkeit, sondern hatte handfeste Konsequenzen, denn schon damals gab es einen großen Zuckerbedarf.
Ehemals ein Privileg Wohlhabender, wurde der Zucker im Verlauf des 19.Jahrhunderts zu einem Produkt, das in Europa alle Bevölkerungsschichten konsumierten (Merki 1999, S. 234). Großbritannien schritt in dieser Entwicklung besonders schnell voran (ebd., S. 235). Lange Zeit war dort eine kontinuierliche Versorgung mit großen Mengen günstigen Zuckers aus den kolonialisierten Karibikinseln gegeben, innerhalb von gut 100 Jahren vervierfachte sich der jährliche Verbrauch: hatte eine Person in England im Jahr 1700 noch durchschnittlich 4 Pfund (1,8 kg) Zucker verspeist, so waren es im Jahr 1809 bereits 18 Pfund (8,1 kg) (Walvin 2020, S. 114). Schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts süßten arme Menschen Hafer, Weizen oder Reis mit Zucker, bestrichen ihr Brot mit Melasse und tranken süßen Tee (ebd., S. 95). Die Ernährung britischer Arbeiter*innen konstituierte sich aus Brot, Zucker, Fett und wenig Fleisch (ebd., S. 115).
Für die Mehrheit der Bevölkerung war der Zucker jahrhundertelang zwischen Medikament und Luxusartikel angesiedelt. Nun wurde er „ein wichtiger Energielieferant für die wachsende Bevölkerung in den industrialisierten Städten; er war zentrale Zutat ihrer dürftigen Speisen und unverzichtbar für ihre heißen Getränke (ebd., S. 116)“
Mitte des 19.Jahrhunderts war Zucker zu einem obligatorischen Bestandteil der alltäglichen Ernährung in Großbritannien geworden und auf dem europäischen Festland gab es ähnliche Entwicklungen (ebd., S. 86-88).
In Deutschland verbilligte sich der Zucker von 1800 bis 1900 kontinuierlich – ganz im Gegensatz zu Roggen, Gerste oder Rinderfleisch, die sich verteuerten (Teuteberg 1988, S.160). 1863 konstatierte die Kölner Handelskammer, dass sich arme Menschen hauptsächlich von Brot und Sirup(2) ernährten (ebd., S. 159). Für die Arbeiter*innen hatte der Zucker einen „Substitutionscharakter“, Menschen, die nicht genügend Geld für den (regelmäßigen) Konsum von Fetten oder tierischen Eiweißen hatten, konnten ihren Kalorienbedarf durch den Zucker decken (ebd., S. 160).
In dieser Zeit (ab circa 1850) befand sich die Ernährung der Menschen in Europa und den USA in einem bedeutenden Transformationsprozess, der eng an die Industrialisierung gekoppelt war (ebd., S. 196). Was die Menschen zu sich nahmen, änderte sich grundlegend. Millionen Personen, vormals durch ein lokales Nahrungsmittel- und Getränkegewerbe versorgt, konsumierten nun Lebensmittel, die in neuen Verfahren massenhaft von Maschinen hergestellt wurden (ebd., S. 196, S. 252). Diese industriell gefertigten Lebensmittel enthielten fast durchgängig Zucker (ebd., S. 196). Er wurde nicht nur offensichtlich süßen Produkten –Süßwaren, Kekse, Schokoladen oder Marmeladen– beigefügt. Ähnlich wie heute, versetzte die Industrie auch scheinbar nicht-süße Lebensmittel, wie Bier oder Mehl (und somit auch Brot) mit Zucker (ebd., S. 198).
Zucker nahmen die Menschen also nicht nur zu sich, wenn sie ihn bewusst ihrer Nahrung hinzufügten, sie konsumierten ihn nun auch über die Produkte der aufkommenden Lebensmittelindustrie. Während eine Person in Großbritannien im Jahr 1810 durchschnittlich 16 Pfund (7,2 kg) Zucker zu sich nahm, waren es unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg (1914) 83 Pfund (37,6 kg) (ebd., S. 197). Der Historiker James Walvin geht davon aus, dass die Menschen in Deutschland im selben Jahr durchschnittlich die doppelte Menge an Zucker verzehrten (ebd., S. 197). Großbritannien und Deutschland waren keine Ausnahmeerscheinungen, um 1900 konsumierten alle Gesellschaften des Westens große Mengen Zucker (ebd., S. 197).
Where the sugar comes from: die Etablierung von Rübenzuckerverfahren in Europa
Dieser Zucker kam nicht mehr (wie noch vor 100 Jahren) aus der Karibik, sondern wurde größtenteils aus europäischen Zuckerrüben gewonnen (ebd., S. 197-198)(3). Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass der Großteil des Zuckers in Europa aus Zuckerrüben – und nicht mehr aus Zuckerrohr – gewonnen wird. Doch wie sahen die Anfänge der europäischen Zuckerproduktion aus?
Ab 1750 begann eine intensive Forschung nach Alternativen zum Zuckerrohr. Es wurden verschiedene Gewächse untersucht, von denen man annahm, dass sie zuckerhaltig sein könnten (VHPZ 2011, S. 10). Um 1800 kam es in Europa zu einer Zuckerknappheit und einer Preiserhöhung. Auslöser war die - durch vermehrte Widerstände versklavter Personen ausgelöste - beginnende Destabilisierung des karibischen Zuckermarktes (ebd., S. 11). Die Verknappung, bzw. Verteuerung von Zucker aus der Karibik fachte die Forschung nach alternativen Herstellungs-Verfahren in Europa an (ebd., S. 11-12).
Runkelrübenverfahren standen ab 1799 im Vordergrund (ebd., S. 11-12). In diesem Jahr meldete der deutsche Chemiker Franz Carl Achard dem König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, dass er ein Verfahren entwickelt habe, aus Runkelrüben Zucker herzustellen (ebd., S. 12). Da Preußen an einer autarken Zuckerversorgung interessiert war, unterstützte der preußische Staat die Etablierung und Weiterentwicklung des Verfahrens (ebd., S. 12). Übrigens hielt Achard seine Methode bewusst so fest, dass sie für andere wiederholbar war (ebd., S. 12).
Basierend auf diesen Erkenntnissen und angetrieben durch ein Wirtschaftsembargo, dass Napoleon 1806 gegen Großbritannien und dessen Kolonien implementierte, wurden im deutschsprachigen Raum und ganz Europa anfangs Versuchseinrichtungen zur Zuckerproduktion und später die ersten Rübenzucker-Fabriken gegründet (ebd., S. 13).
Nach dem Sturz Napoleons und dem Ende der Kontinentalsperre schlossen diese Fabriken wieder, sie waren nicht mehr rentabel, da der Import günstigen Kolonialzuckers vorerst wieder möglich war (ebd., S. 16-17). Nur in Frankreich führte man die Verarbeitung von Zuckerrüben fort (ebd., S. 17).
Hier wurden technische Fortschritte gemacht, die im deutschsprachigen Raum ab den 1820er Jahren eine zweite ‚Zuckergründungswelle‘ inspirierten, diese verlief in wesentlich schnelleren Entwicklungsschritten als die erste (ebd., S. 17). So arbeiteten im Jahr 1836 bereits 122 Zuckerfabriken auf deutschem Gebiet (ebd., S. 17). Sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland gab es scharfe Interessenskämpfe zwischen Profiteur*innen des Kolonialzucker-Handels und Vertreter*innen der Rübenzuckerindustrie (ebd., 17).
In diesem Kontext ist die Rübensteuer zu sehen, die in Deutschland 1840 eingeführt wurde (ebd., S. 18). Diese hatte viele Betriebs-Stilllegungen zu Folge, förderte aber auch die Innovativität des Sektors, weil die Industrie nun an einer höheren Zucker-Produktivität interessiert war. Deshalb wurde verstärkt in die Weiterentwicklung der technischen Verfahren und in Projekte zur Züchtung zuckerhaltigerer Rüben investiert (ebd., S. 18). So kam die (damals neuartige) Dampfkraft in der Zuckerproduktion bereits relativ früh zum Einsatz und im Zeitraum zwischen 1836 und 1906 wurde die Zuckerhaltigkeit der Zuckerrüben durch Züchtung um 10% gesteigert (Merki 1999, S. 243).
Die Produktionszeit von Zucker verkürzte sich wesentlich und auch die Verkaufsform veränderte sich: während früher Zuckerhüte mit wochenlanger Herstellungszeit im Handel waren, wurde es nun möglich, in kurzer Zeit große Mengen an Kristallzucker zu produzieren (Walvin 2020, S. 195-196). Das selbe gilt übrigens auch für Süßwaren und Schokolade, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichten neue Maschinen und Produktionsverfahren, beträchtliche Produktivitätssteigerungen, was wiederum einen gesteigerten Verzehr von Süßigkeiten auf Zuckerbasis begünstigte (ebd., S. 196). Es entstand also eine Massenproduktion an Zucker: der Verbrauch einer deutschen Zuckerrübenfabrik, lag 1836 durchschnittlich bei 1,3 Tonnen Zuckerrüben am Tag, im Jahre 1895 lag der durchschnittliche Verbrauch bei 392 Tonnen täglich (Merki 1999, S. 243). Die Zuckerfabrik in Wabern eröffnete übrigens im Jahr 1880 und verwertete in ihrer ersten Kampagne 10 000 Tonnen Zuckerrüben in zwei Monaten (Südzucker 2019, S. 2). Auch, wenn dies bislang noch wenig zu Kenntnis genommen wird, trug die Zuckerrübenindustrie immens zur Industrialisierung in Deutschland bei (Merki 1999, S. 243).
Die aktuelle Zuckerwirtschaft im Schwalm-Eder Kreiß
Obgleich sich die globale Zuckerproduktion aktuell wieder hauptsächlich aus Zuckerrohr speist(4), ist der Rübenzucker in Deutschland ein bedeutender Posten der Agrarwirtschaft. 2019 wurden 3,7% der Gesamtackerfläche in Deutschland mit Zuckerrüben bepflanzt(5) (BLE 2020, S. 4). Dabei konnte die Zuckerproduktion in Deutschland in den letzten Jahren immer den Zuckerbedarf(6) decken (der Selbstversorgungsgrad lag in den Jahren 2013-2020 zwischen 103 und 161%) (BLE 2020, S. 17).
Die Zuckerproduktion in Deutschland liegt in der Hand von nur vier Firmen(7) (ebd., S. 6). Auch beim Anbau der Rüben gibt es einen Trend zur Konzentration. Die Anzahl der Rübenbäuer*innen hat sich innerhalb von zehn Jahren um etwa die Hälfte reduziert, wobei sich die Anbaugebiete (anders als noch vor einigen Jahren) tendenziell 100km um die Fabriken bündeln (BLE 2020, S. 4-5). Zusammengenommen gibt es in Deutschland 18 Zuckerfabriken (Stand 2021).
Eine dieser Zuckerfabriken steht in Wabern und 4-8% der gesamten Ackerfläche des Schwalm-Eder-Kreises werden mit Zuckerrüben bepflanzt (ebd., S. 8). Die meisten dieser Zuckerrüben dürften im Südzuckerwerk Wabern verarbeitet werden. Etwa 1.100 Landwirt*innen - nicht nur aus dem Schwalm-Eder-Kreis, sondern auch aus Thüringen, Niedersachsen und Bayern - beliefern die Fabrik mit Zuckerrüben (ebd., S. 6). Die Fabrik hat ungefähr 80 Mitarbeiter*innen (Südzucker 2019, S. 3). Zwischen 700.000 und 900.000 Tonnen Zuckerrüben werden im Werk-Wabern jährlich zu 110.000 bis 140.000 Tonnen Zucker verarbeitet (ebd., S. 3).
Verglichen mit den damaligen Produktionszeiten, verwandeln sich die Rüben heutzutage in einem Augenzwinkern zu Zucker. Die durchschnittliche Verarbeitungszeit einer Zuckerrübe zu Zucker beträgt in Wabern unter acht Stunden (ebd., S. 18). 90 Prozent dieses Zuckers geht an die Lebensmittelindustrie und etwa 10 Prozent werden zu verschiedenen Zuckersorten für den Hausbedarf verwertet (ebd., S. 11)(8).
Dass die Lebensmittelindustrie größte Abnehmer*in des Zuckers ist, macht deutlich, auf welche grundlegende Weise beide Bereiche miteinander verflochten sind.
Die Südzucker AG ist die Muttergesellschaft der Südzucker Group. Und zur Südzucker Group gehören nicht nur Zuckerfabriken, der Konzern ist auch in ganz anderen Bereichen aktiv, bzw. in verschiedene Divisionen unterteilt.
Zur Südzucker Group gehört zum Beispiel „Freiburger – the convenience food group“, ein Unternehmen, das nicht allzu bekannt ist, im Foodsektor aber durchaus eine Rolle spielt. Die Freiburger Gruppe stellt Tiefkühlprodukte her: Pizza, Pasta, Baguettes und Backwaren für Backstationen in Supermärkten. Das Unternehmen bezeichnet sich auf seiner Webseite als „europaweit größten Hersteller tiefgekühlter Pizzen, Snacks und Pastaprodukte für Handelsmarken (aus: Freiberger 2022)“(9).
Auch Beneo gehört zur Südzucker Group. Diese Firma stellt funktionale Inhaltsstoffe für Lebensmittel, Tierfutter und Medikamente her. Funktionale Inhaltsstoffe sind Bestandteile von Nahrungsmitteln, bei denen eine gesundheitsförderliche Wirkung nachgewiesen werden kann, häufig haben diese Inhaltsstoffe auch Auswirkungen auf die Textur von Lebensmitteln. In der modernen Lebensmittelindustrie spielen solche Inhaltsstoffe, die es erlauben, neue Lebensmittel zu entwerfen, wohl eine große Rolle. So bietet Beneo zum Beispiel den funktionalen Ballaststoff Orafti® Inulin an, dieser Ballaststoff reguliert die Darmflora, steigert die Kalziumaufnahme der Knochen und reduziert den Fettgehalt von Nahrungsmitteln. Inulin generiert außerdem eine „cremige Konsistenz und ein fettähnliches Mundgefühl (…) verbessert die Textur, erzeugt ein gutes Mundgefühl und ein ausgezeichnetes Aromaprofil (vgl. Beneo 2022)“ Verwendet wird Inulin zum Beispiel für Suppen, Soßen, Schokoladen, Getränke, Backwaren oder Säuglingsnahrung.
Die Zuckerstraße vom Kolonialismus zum (postkolonialen) Kapitalismus
Die vielfältigen Aktivitäten der Südzucker Group – Beneo und Freiberger sind nur zwei von mehreren Unternehmen, die zu Südzucker gehören (10) – verdeutlichen, die Einbindung des Schwalm-Eder-Kreiß in multinationale, wirtschaftliche Zusammenhänge.
Die Geschichte des Zuckererbes zeigt, dass die Region bereits vor knapp 200 Jahren soweit mit einem kolonial-kapitalistischen Handelssystem verstrickt war, dass einige der damaligen Bewohner*innen enorm vom ausbeuterischen britischen Kolonialsystem profitierten. Das Erbe Wickes, generiert durch die Arbeit versklavter Personen, machte den Bau, bzw. die Erneuerung einer beachtlichen Anzahl von Höfen im Schwalm-Eder Kreiß möglich.
Die angebliche ländliche Abgeschiedenheit, mit der bereits die Nationalist*innen des 19. Jahrhunderts eine Antiglobalisierungsagitation betrieben, gab es also schon damals nicht. Die deutsche Zuckerrübenindustrie, die in Form der Zuckerfabrik in Wabern 1880 den Schwalm-Eder-Kreiß erreichte, entwickelte sich in starker Interaktion mit internationalen Dynamiken - wie dem Niedergang des karibischen Kolonialzuckersystems, Napoleons Wirtschaftsembargo gegen Großbritannien oder Erkenntnissen aus französischen Rübenfabriken.
Heutzutage schafft der Schwalm-Eder-Kreis mit seiner Zuckerrübenlandwirtschaft eine Voraussetzung für eine hochmoderne und umsatzstarke Lebensmittelindustrie, die beliefert wird. Sogenannte ernährungsbedingte Erkrankungen, wie Diabetes Mellitus, Herz-Kreißlauf-Erkrankungen, usw. spielen im deutschen Gesundheitssystem eine übergeordnete Rolle. Sie sind in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen mit modernisiert-westlichen Ernährungsgewohnheiten und somit auch mit der gewinnorientiert-kapitalisierten Herstellung von Lebensmitteln.
Denkt man an die Anfänge Lebensmittelindustrie - für die der Zucker als Massenprodukt ganz grundlegend war - dann könnte seine aktuelle Relevanz für den foodsektor fast als eine logische Fortsetzung dieser Anfänge betrachtet werden.
Ländlichen Orten wird häufig ein besonderer Bezug zu (vermeintlich) traditionellem Leben und eine gewisse Entfernung zur Globalisierung und vor allem zur globalisierten Wirtschaft unterstellt. Entgegen solcher Vorstellungen, profitierten manche Menschen im Schwalm-Eder Kreiß zu Zeiten Wickes vom ausbeuterisch-rassistischen Kolonialsystem. Heutzutage sind die Rübenlandwirt*innen im Schwalm-Eder-Kreis Teil eines kapitalistischen und global agierenden Wirtschaftssystems, das auf Profitmaximierung ausgerichtet ist. Damals das Kolonialsystem, heute die Verflechtungen moderner Unternehmen. Die Konstante ist der Zucker und das natürlich nicht nur im Schwalm-Eder Kreiß.
(1) auf den Zuckerrohr-Plantagen französischer Kolonien arbeiteten bis 1848 versklavte Personen, auf Kuba (spanische Kolonie) wurde die Sklaverei erst 1886 beendet (Walvin 2020, S .163, S. 175).
Dies kann jedoch nicht als ein Ende ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse auf den Zuckerohrplantagen interpretiert werden. Nachdem die Sklaverei auf den karibischen Inseln zunehmend verboten wurde, verrichteten häufig Vertragsknechte die beschwerliche Arbeit (ebd., S. 180).
(2) Sirup, als ein Abfallprodukt der Zuckerproduktion, war erschwinglicher als Kristallzucker oder Zuckerhüte (Teuteberg 1988, S. 159).
(3) Übrigens war Deutschland ab 1850 bis zum ersten Weltkrieg der weltweit führende Zuckeproduzent (VHPZ 2011, S.19, S. 64).
(4) Global gesehen ist Brasilien momentan der größte Exporteur und Indien der größte Produzent von Zucker (BLE 2020, S. 1)
(5) Die Regierungsbezirke in Deutschland, in denen am meisten Zuckerrüben angebaut werden, sind Braunschweig, Hannover und Lüneburg, etwa ein Viertel der Gesamtanbaufläche von Zuckerrüben liegt in diesen Bezirken (BLE 2020 S. 8). Die nächstgrößte Zuckerrübenanbaufläche liegt in den Regierungsbezirken Düsseldorf und Köln (ebd., S. 8).
(6) Im Wirtschaftsjahr 2018/19 verbrauchte eine Person in Deutschland durchschnittlich 34,6 kg Zucker, vor dem 2. WK (im Wirtschaftsjahr 1935/38) waren es durchschnittlich 25,5 kg (BLE 2020, S. 17).
(7) Nordzucker AG; Südzucker AG; Pfeifer&Langen KG; Cosun Beet Company & Co. KG (eine Fabrik).
(8) Das entspricht in etwa dem Gesamttrend. Die Nahrungsmittelindustrie erwirbt 79% des Nahrungszuckers, der in Deutschland produziert und verkauft wird (BLE 2020, S.6).
(9) Unter Handelsmarken versteht man die Eigenmarken von Supermärkten, wie beispielsweise „Gut und Günstig“, „TIP“, „JA!“ oder „Rewe Beste Wahl“
(10) Weitere sind zum Beispiel die „CropEnergies-Gruppe“ (Ethanolherstellung, führend in Europa) oder „PortionPack Europe“ (Herstellung von Protionspackungen).
Literatur:
BLE. 2020. Bericht zur Markt- und Versorgungslage Zucker. Hrsg. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Zugriff unter (letzter 03/2022): https://www.ble.de/SharedDocs/Downloads/DE/BZL/Daten-Berichte/Zucker/2020BerichtZucker.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Merki, Christoph Maria. 1999. Zucker. In Genussmittel – ein kulturgeschichtliches Handbuch. Hrsg. Hengartner, Merki. S.231-256. Frankfurt/New York: Campus Verlag
Südzucker. 2019. Willkommen im Werk Wabern -Werkprospekt. Zugriff unter (letzter 03/22): https://www.suedzucker.de/sites/default/files/2019-12/SZ_Werksprospekte_2019_Wb_Web.pdf
Teuteberg, Hans Jürgen. 1988. Der Beitrag des Rübenzuckers zur „Ernährungsrevolution“ des
19. Jahrhunderts. In Unsere tägliche Kost. S. 153 – 162. Münster: Münstersches Informations- und Archivsystem multimedialer Inhalte (MIAMI)
VHPZ – Verband der Hessisch-Pfälzischen Rübenbauer e.V. 2011. 100 Jahre – Gemeinsam erfolgreich für Rübe und Zucker. Osthofen: Druckhaus Franz Seibert KG
Walvin, James. 2020. Zucker – eine Geschichte über Macht und Versuchung. München: oekom Verlag
Quellen:
Beneo. 2022. Zugriff unter (letzter 03/22): https://www.beneo.com/de/inhaltsstoffe/nahrungsmittel/funktionelle-ballaststoffe/inulin
Freiberger. 2022. Zugriff unter (letzter 03/22): https://freiberger-pizza.com/Unternehmen
Südzucker. 2022. Zugriff unter (letzter 03/22): https://www.suedzucker.de/de/unternehmen/konzernstruktur
Die Soziologin (BA) und Krankenpflegerin Yasmin El Sayed lebt und arbeitet in Kassel. Mit dem Ländlichen befasst sie sich in mehreren Kontexten. Während sich El Sayed in „Der Zucker und der Schwalm-Eder-Kreiß“ mit internationalen Verflechtungen im ruralen Raum auseinander setzt, beschäftigt sie sich in „Zwischen Rechtsideologie und Alltagsromantik: Idealisierte Bilder des Landlebens“ (erschienen in „YOUTH“ von Kathi Seemann https://www.kathiseemann.com/editions-publications/youth/) mit Idyllisierungen des Landlebens und den politischen Akteur*innen, die entsprechende Narrative eines angeblich abgeschiedenen und ‚heilen‘ Landlebens nutzen. Der Text steht hier zum Download zur Verfügung.
Im Text „Der Zucker und der Schwalm-Eder-Kreiß“ werden globale Interdependenzen im Schwalm-Eder-Kreis sichtbar gemacht. Eine Kontinuität in der historischen und aktuellen Globalität des Schwalm-Eder-Kreises ist der Zucker und diese Zusammenhänge werden ausgeleuchtet.
© Yasmin El Sayed
Aus der Geschichte: der Zucker wird vom Luxus- zum Allgeimeingut
Die Erbschaft Georg Wickes erreichte den Schwalm-Eder-Kreis um 1829. Zu dieser Zeit geriet das System, mit dem Wicke sein Vermögen verdient hatte, zunehmend ins Wanken. Nachdem Zucker aus kolonialisierten Karibikinseln rund 150 Jahre lang den Zucker-Weltmarkt beherrscht hatte, begann diese Dominanz ab circa 1800 langsam zu bröckeln (Merki 1999, S. 240-241)(1). Der Handel mit karibischem Zucker war grundlegend mit der Arbeit versklavter Menschen verflochten. Daher nahm der Wirtschaftssektor erheblichen Schaden, als es in der Karibik zu verstärktem Widerstand kam und die Sklaverei langsam ein Ende fand (ebd., S. 240-241). Eine solche Destabilisierung des Zuckermarktes war keine Kleinigkeit, sondern hatte handfeste Konsequenzen, denn schon damals gab es einen großen Zuckerbedarf.
Ehemals ein Privileg Wohlhabender, wurde der Zucker im Verlauf des 19.Jahrhunderts zu einem Produkt, das in Europa alle Bevölkerungsschichten konsumierten (Merki 1999, S. 234). Großbritannien schritt in dieser Entwicklung besonders schnell voran (ebd., S. 235). Lange Zeit war dort eine kontinuierliche Versorgung mit großen Mengen günstigen Zuckers aus den kolonialisierten Karibikinseln gegeben, innerhalb von gut 100 Jahren vervierfachte sich der jährliche Verbrauch: hatte eine Person in England im Jahr 1700 noch durchschnittlich 4 Pfund (1,8 kg) Zucker verspeist, so waren es im Jahr 1809 bereits 18 Pfund (8,1 kg) (Walvin 2020, S. 114). Schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts süßten arme Menschen Hafer, Weizen oder Reis mit Zucker, bestrichen ihr Brot mit Melasse und tranken süßen Tee (ebd., S. 95). Die Ernährung britischer Arbeiter*innen konstituierte sich aus Brot, Zucker, Fett und wenig Fleisch (ebd., S. 115).
Für die Mehrheit der Bevölkerung war der Zucker jahrhundertelang zwischen Medikament und Luxusartikel angesiedelt. Nun wurde er „ein wichtiger Energielieferant für die wachsende Bevölkerung in den industrialisierten Städten; er war zentrale Zutat ihrer dürftigen Speisen und unverzichtbar für ihre heißen Getränke (ebd., S. 116)“
Mitte des 19.Jahrhunderts war Zucker zu einem obligatorischen Bestandteil der alltäglichen Ernährung in Großbritannien geworden und auf dem europäischen Festland gab es ähnliche Entwicklungen (ebd., S. 86-88).
In Deutschland verbilligte sich der Zucker von 1800 bis 1900 kontinuierlich – ganz im Gegensatz zu Roggen, Gerste oder Rinderfleisch, die sich verteuerten (Teuteberg 1988, S.160). 1863 konstatierte die Kölner Handelskammer, dass sich arme Menschen hauptsächlich von Brot und Sirup(2) ernährten (ebd., S. 159). Für die Arbeiter*innen hatte der Zucker einen „Substitutionscharakter“, Menschen, die nicht genügend Geld für den (regelmäßigen) Konsum von Fetten oder tierischen Eiweißen hatten, konnten ihren Kalorienbedarf durch den Zucker decken (ebd., S. 160).
In dieser Zeit (ab circa 1850) befand sich die Ernährung der Menschen in Europa und den USA in einem bedeutenden Transformationsprozess, der eng an die Industrialisierung gekoppelt war (ebd., S. 196). Was die Menschen zu sich nahmen, änderte sich grundlegend. Millionen Personen, vormals durch ein lokales Nahrungsmittel- und Getränkegewerbe versorgt, konsumierten nun Lebensmittel, die in neuen Verfahren massenhaft von Maschinen hergestellt wurden (ebd., S. 196, S. 252). Diese industriell gefertigten Lebensmittel enthielten fast durchgängig Zucker (ebd., S. 196). Er wurde nicht nur offensichtlich süßen Produkten –Süßwaren, Kekse, Schokoladen oder Marmeladen– beigefügt. Ähnlich wie heute, versetzte die Industrie auch scheinbar nicht-süße Lebensmittel, wie Bier oder Mehl (und somit auch Brot) mit Zucker (ebd., S. 198).
Zucker nahmen die Menschen also nicht nur zu sich, wenn sie ihn bewusst ihrer Nahrung hinzufügten, sie konsumierten ihn nun auch über die Produkte der aufkommenden Lebensmittelindustrie. Während eine Person in Großbritannien im Jahr 1810 durchschnittlich 16 Pfund (7,2 kg) Zucker zu sich nahm, waren es unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg (1914) 83 Pfund (37,6 kg) (ebd., S. 197). Der Historiker James Walvin geht davon aus, dass die Menschen in Deutschland im selben Jahr durchschnittlich die doppelte Menge an Zucker verzehrten (ebd., S. 197). Großbritannien und Deutschland waren keine Ausnahmeerscheinungen, um 1900 konsumierten alle Gesellschaften des Westens große Mengen Zucker (ebd., S. 197).
Where the sugar comes from: die Etablierung von Rübenzuckerverfahren in Europa
Dieser Zucker kam nicht mehr (wie noch vor 100 Jahren) aus der Karibik, sondern wurde größtenteils aus europäischen Zuckerrüben gewonnen (ebd., S. 197-198)(3). Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass der Großteil des Zuckers in Europa aus Zuckerrüben – und nicht mehr aus Zuckerrohr – gewonnen wird. Doch wie sahen die Anfänge der europäischen Zuckerproduktion aus?
Ab 1750 begann eine intensive Forschung nach Alternativen zum Zuckerrohr. Es wurden verschiedene Gewächse untersucht, von denen man annahm, dass sie zuckerhaltig sein könnten (VHPZ 2011, S. 10). Um 1800 kam es in Europa zu einer Zuckerknappheit und einer Preiserhöhung. Auslöser war die - durch vermehrte Widerstände versklavter Personen ausgelöste - beginnende Destabilisierung des karibischen Zuckermarktes (ebd., S. 11). Die Verknappung, bzw. Verteuerung von Zucker aus der Karibik fachte die Forschung nach alternativen Herstellungs-Verfahren in Europa an (ebd., S. 11-12).
Runkelrübenverfahren standen ab 1799 im Vordergrund (ebd., S. 11-12). In diesem Jahr meldete der deutsche Chemiker Franz Carl Achard dem König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, dass er ein Verfahren entwickelt habe, aus Runkelrüben Zucker herzustellen (ebd., S. 12). Da Preußen an einer autarken Zuckerversorgung interessiert war, unterstützte der preußische Staat die Etablierung und Weiterentwicklung des Verfahrens (ebd., S. 12). Übrigens hielt Achard seine Methode bewusst so fest, dass sie für andere wiederholbar war (ebd., S. 12).
Basierend auf diesen Erkenntnissen und angetrieben durch ein Wirtschaftsembargo, dass Napoleon 1806 gegen Großbritannien und dessen Kolonien implementierte, wurden im deutschsprachigen Raum und ganz Europa anfangs Versuchseinrichtungen zur Zuckerproduktion und später die ersten Rübenzucker-Fabriken gegründet (ebd., S. 13).
Nach dem Sturz Napoleons und dem Ende der Kontinentalsperre schlossen diese Fabriken wieder, sie waren nicht mehr rentabel, da der Import günstigen Kolonialzuckers vorerst wieder möglich war (ebd., S. 16-17). Nur in Frankreich führte man die Verarbeitung von Zuckerrüben fort (ebd., S. 17).
Hier wurden technische Fortschritte gemacht, die im deutschsprachigen Raum ab den 1820er Jahren eine zweite ‚Zuckergründungswelle‘ inspirierten, diese verlief in wesentlich schnelleren Entwicklungsschritten als die erste (ebd., S. 17). So arbeiteten im Jahr 1836 bereits 122 Zuckerfabriken auf deutschem Gebiet (ebd., S. 17). Sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland gab es scharfe Interessenskämpfe zwischen Profiteur*innen des Kolonialzucker-Handels und Vertreter*innen der Rübenzuckerindustrie (ebd., 17).
In diesem Kontext ist die Rübensteuer zu sehen, die in Deutschland 1840 eingeführt wurde (ebd., S. 18). Diese hatte viele Betriebs-Stilllegungen zu Folge, förderte aber auch die Innovativität des Sektors, weil die Industrie nun an einer höheren Zucker-Produktivität interessiert war. Deshalb wurde verstärkt in die Weiterentwicklung der technischen Verfahren und in Projekte zur Züchtung zuckerhaltigerer Rüben investiert (ebd., S. 18). So kam die (damals neuartige) Dampfkraft in der Zuckerproduktion bereits relativ früh zum Einsatz und im Zeitraum zwischen 1836 und 1906 wurde die Zuckerhaltigkeit der Zuckerrüben durch Züchtung um 10% gesteigert (Merki 1999, S. 243).
Die Produktionszeit von Zucker verkürzte sich wesentlich und auch die Verkaufsform veränderte sich: während früher Zuckerhüte mit wochenlanger Herstellungszeit im Handel waren, wurde es nun möglich, in kurzer Zeit große Mengen an Kristallzucker zu produzieren (Walvin 2020, S. 195-196). Das selbe gilt übrigens auch für Süßwaren und Schokolade, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichten neue Maschinen und Produktionsverfahren, beträchtliche Produktivitätssteigerungen, was wiederum einen gesteigerten Verzehr von Süßigkeiten auf Zuckerbasis begünstigte (ebd., S. 196). Es entstand also eine Massenproduktion an Zucker: der Verbrauch einer deutschen Zuckerrübenfabrik, lag 1836 durchschnittlich bei 1,3 Tonnen Zuckerrüben am Tag, im Jahre 1895 lag der durchschnittliche Verbrauch bei 392 Tonnen täglich (Merki 1999, S. 243). Die Zuckerfabrik in Wabern eröffnete übrigens im Jahr 1880 und verwertete in ihrer ersten Kampagne 10 000 Tonnen Zuckerrüben in zwei Monaten (Südzucker 2019, S. 2). Auch, wenn dies bislang noch wenig zu Kenntnis genommen wird, trug die Zuckerrübenindustrie immens zur Industrialisierung in Deutschland bei (Merki 1999, S. 243).
Die aktuelle Zuckerwirtschaft im Schwalm-Eder Kreiß
Obgleich sich die globale Zuckerproduktion aktuell wieder hauptsächlich aus Zuckerrohr speist(4), ist der Rübenzucker in Deutschland ein bedeutender Posten der Agrarwirtschaft. 2019 wurden 3,7% der Gesamtackerfläche in Deutschland mit Zuckerrüben bepflanzt(5) (BLE 2020, S. 4). Dabei konnte die Zuckerproduktion in Deutschland in den letzten Jahren immer den Zuckerbedarf(6) decken (der Selbstversorgungsgrad lag in den Jahren 2013-2020 zwischen 103 und 161%) (BLE 2020, S. 17).
Die Zuckerproduktion in Deutschland liegt in der Hand von nur vier Firmen(7) (ebd., S. 6). Auch beim Anbau der Rüben gibt es einen Trend zur Konzentration. Die Anzahl der Rübenbäuer*innen hat sich innerhalb von zehn Jahren um etwa die Hälfte reduziert, wobei sich die Anbaugebiete (anders als noch vor einigen Jahren) tendenziell 100km um die Fabriken bündeln (BLE 2020, S. 4-5). Zusammengenommen gibt es in Deutschland 18 Zuckerfabriken (Stand 2021).
Eine dieser Zuckerfabriken steht in Wabern und 4-8% der gesamten Ackerfläche des Schwalm-Eder-Kreises werden mit Zuckerrüben bepflanzt (ebd., S. 8). Die meisten dieser Zuckerrüben dürften im Südzuckerwerk Wabern verarbeitet werden. Etwa 1.100 Landwirt*innen - nicht nur aus dem Schwalm-Eder-Kreis, sondern auch aus Thüringen, Niedersachsen und Bayern - beliefern die Fabrik mit Zuckerrüben (ebd., S. 6). Die Fabrik hat ungefähr 80 Mitarbeiter*innen (Südzucker 2019, S. 3). Zwischen 700.000 und 900.000 Tonnen Zuckerrüben werden im Werk-Wabern jährlich zu 110.000 bis 140.000 Tonnen Zucker verarbeitet (ebd., S. 3).
Verglichen mit den damaligen Produktionszeiten, verwandeln sich die Rüben heutzutage in einem Augenzwinkern zu Zucker. Die durchschnittliche Verarbeitungszeit einer Zuckerrübe zu Zucker beträgt in Wabern unter acht Stunden (ebd., S. 18). 90 Prozent dieses Zuckers geht an die Lebensmittelindustrie und etwa 10 Prozent werden zu verschiedenen Zuckersorten für den Hausbedarf verwertet (ebd., S. 11)(8).
Dass die Lebensmittelindustrie größte Abnehmer*in des Zuckers ist, macht deutlich, auf welche grundlegende Weise beide Bereiche miteinander verflochten sind.
Die Südzucker AG ist die Muttergesellschaft der Südzucker Group. Und zur Südzucker Group gehören nicht nur Zuckerfabriken, der Konzern ist auch in ganz anderen Bereichen aktiv, bzw. in verschiedene Divisionen unterteilt.
Zur Südzucker Group gehört zum Beispiel „Freiburger – the convenience food group“, ein Unternehmen, das nicht allzu bekannt ist, im Foodsektor aber durchaus eine Rolle spielt. Die Freiburger Gruppe stellt Tiefkühlprodukte her: Pizza, Pasta, Baguettes und Backwaren für Backstationen in Supermärkten. Das Unternehmen bezeichnet sich auf seiner Webseite als „europaweit größten Hersteller tiefgekühlter Pizzen, Snacks und Pastaprodukte für Handelsmarken (aus: Freiberger 2022)“(9).
Auch Beneo gehört zur Südzucker Group. Diese Firma stellt funktionale Inhaltsstoffe für Lebensmittel, Tierfutter und Medikamente her. Funktionale Inhaltsstoffe sind Bestandteile von Nahrungsmitteln, bei denen eine gesundheitsförderliche Wirkung nachgewiesen werden kann, häufig haben diese Inhaltsstoffe auch Auswirkungen auf die Textur von Lebensmitteln. In der modernen Lebensmittelindustrie spielen solche Inhaltsstoffe, die es erlauben, neue Lebensmittel zu entwerfen, wohl eine große Rolle. So bietet Beneo zum Beispiel den funktionalen Ballaststoff Orafti® Inulin an, dieser Ballaststoff reguliert die Darmflora, steigert die Kalziumaufnahme der Knochen und reduziert den Fettgehalt von Nahrungsmitteln. Inulin generiert außerdem eine „cremige Konsistenz und ein fettähnliches Mundgefühl (…) verbessert die Textur, erzeugt ein gutes Mundgefühl und ein ausgezeichnetes Aromaprofil (vgl. Beneo 2022)“ Verwendet wird Inulin zum Beispiel für Suppen, Soßen, Schokoladen, Getränke, Backwaren oder Säuglingsnahrung.
Die Zuckerstraße vom Kolonialismus zum (postkolonialen) Kapitalismus
Die vielfältigen Aktivitäten der Südzucker Group – Beneo und Freiberger sind nur zwei von mehreren Unternehmen, die zu Südzucker gehören (10) – verdeutlichen, die Einbindung des Schwalm-Eder-Kreiß in multinationale, wirtschaftliche Zusammenhänge.
Die Geschichte des Zuckererbes zeigt, dass die Region bereits vor knapp 200 Jahren soweit mit einem kolonial-kapitalistischen Handelssystem verstrickt war, dass einige der damaligen Bewohner*innen enorm vom ausbeuterischen britischen Kolonialsystem profitierten. Das Erbe Wickes, generiert durch die Arbeit versklavter Personen, machte den Bau, bzw. die Erneuerung einer beachtlichen Anzahl von Höfen im Schwalm-Eder Kreiß möglich.
Die angebliche ländliche Abgeschiedenheit, mit der bereits die Nationalist*innen des 19. Jahrhunderts eine Antiglobalisierungsagitation betrieben, gab es also schon damals nicht. Die deutsche Zuckerrübenindustrie, die in Form der Zuckerfabrik in Wabern 1880 den Schwalm-Eder-Kreiß erreichte, entwickelte sich in starker Interaktion mit internationalen Dynamiken - wie dem Niedergang des karibischen Kolonialzuckersystems, Napoleons Wirtschaftsembargo gegen Großbritannien oder Erkenntnissen aus französischen Rübenfabriken.
Heutzutage schafft der Schwalm-Eder-Kreis mit seiner Zuckerrübenlandwirtschaft eine Voraussetzung für eine hochmoderne und umsatzstarke Lebensmittelindustrie, die beliefert wird. Sogenannte ernährungsbedingte Erkrankungen, wie Diabetes Mellitus, Herz-Kreißlauf-Erkrankungen, usw. spielen im deutschen Gesundheitssystem eine übergeordnete Rolle. Sie sind in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen mit modernisiert-westlichen Ernährungsgewohnheiten und somit auch mit der gewinnorientiert-kapitalisierten Herstellung von Lebensmitteln.
Denkt man an die Anfänge Lebensmittelindustrie - für die der Zucker als Massenprodukt ganz grundlegend war - dann könnte seine aktuelle Relevanz für den foodsektor fast als eine logische Fortsetzung dieser Anfänge betrachtet werden.
Ländlichen Orten wird häufig ein besonderer Bezug zu (vermeintlich) traditionellem Leben und eine gewisse Entfernung zur Globalisierung und vor allem zur globalisierten Wirtschaft unterstellt. Entgegen solcher Vorstellungen, profitierten manche Menschen im Schwalm-Eder Kreiß zu Zeiten Wickes vom ausbeuterisch-rassistischen Kolonialsystem. Heutzutage sind die Rübenlandwirt*innen im Schwalm-Eder-Kreis Teil eines kapitalistischen und global agierenden Wirtschaftssystems, das auf Profitmaximierung ausgerichtet ist. Damals das Kolonialsystem, heute die Verflechtungen moderner Unternehmen. Die Konstante ist der Zucker und das natürlich nicht nur im Schwalm-Eder Kreiß.
Die Soziologin (BA) und Krankenpflegerin Yasmin El Sayed lebt und arbeitet in Kassel. Mit dem Ländlichen befasst sie sich in mehreren Kontexten. Während sich El Sayed in „Der Zucker und der Schwalm-Eder-Kreiß“ mit internationalen Verflechtungen im ruralen Raum auseinander setzt, beschäftigt sie sich in „Zwischen Rechtsideologie und Alltagsromantik: Idealisierte Bilder des Landlebens“ (erschienen in „YOUTH“ von Kathi Seemann https://www.kathiseemann.com/editions-publications/youth/) mit Idyllisierungen des Landlebens und den politischen Akteur*innen, die entsprechende Narrative eines angeblich abgeschiedenen und ‚heilen‘ Landlebens nutzen. Der Text steht hier zum Download zur Verfügung.
Im Text „Der Zucker und der Schwalm-Eder-Kreiß“ werden globale Interdependenzen im Schwalm-Eder-Kreis sichtbar gemacht. Eine Kontinuität in der historischen und aktuellen Globalität des Schwalm-Eder-Kreises ist der Zucker und diese Zusammenhänge werden ausgeleuchtet.